MEIN SELBSTVERSUCH

Es spielt keine Rolle, ob du dich auf Olympia oder auf den nächsten Vereinswettkampf vorbereitest, der Prozess ähnelt sich. In meinem Selbstversuch nehme ich dich mit auf eine turbulente Reise und erzähle, wie aus einer "Schnapsidee" ein ernsthaftes Ziel wurde und wie ich den Weg von der Vorbereitung bis zur Umsetzung bestreite.  Dabei werde ich einige Mentaltools einsetzen und Fachwörter benutzen. Wenn du mich als Coach kennst, dann wird dir bestimmt einiges bekannt vorkommen. Die Tools sind nicht als Anleitung gedacht und werden nicht vollständig erklärt. Die Mentaltools und Fachwörter sind jeweils violett eingefärbt, damit du dich bei Interesse noch weiter damit beschäftigen kannst.  


Verzeiht mir die spontane Sprache. Nachfolgend findet ihr keinen literarischen Text, sondern eine Niederschrift meiner Gedanken und Aktivitäten, die ich möglichst realitätsgetreu notiere.


Falls du deine Reaktionen und Gedanken zu meinem Versuch mit mir teilen möchtest (was mich sehr freuen würde), dann schreibe mir eine Nachricht auf: info(at)simi-mentalcoaching.ch. Du kannst auch gerne Fragen stellen, die ich dir gerne beantworte und mit deinem Einverständnis hier auch veröffentliche. 

 

LOS GEHT'S...


Folge 1: Wie kommt man denn auf so was? 

September 2024

Nach meiner Zeit als Wettkampfsportlerin im nationalen und internationalen Bereich mit vielen Challenges folgte eine Zeit, in der ich es genoss, nicht mehr trainieren zu müssen, sondern nur dann etwas zu tun, wenn ich Lust dazu hatte. Ich absolvierte die Ausbildung zum Sport Mental Coach und übe seither diesen Beruf mit viel Herzblut und Begeisterung aus und bleibe dem Wettkampfsport in dieser Hinsicht verbunden.
Alle Sportlerinnen und Sportler unter euch wissen jetzt genau, was kommt: Ein Sportler bleibt ein Sportler und braucht eine eigene Challenge und so meldete sich nach ein paar Jahren mein Sportler-Ich aus meinem inneren Team relativ laut zurück. Und es war klar: Eine neue Challenge musste her…
Ich bin kein Fan von Spiritualität und glaube auch nicht an Zufälle, aber ich bin der festen Überzeugung, dass Ideen, Menschen und neue Möglichkeiten einem begegnen, wenn man dafür offen ist und bereit ist, sie zu erkennen und nicht krampfhaft danach sucht.
Geduld ist definitiv nicht meine Stärke und so waren meine Augen und Ohren diesbezüglich wohl besonders empfänglich. Drei Hinweise in einer und derselben Woche waren dann auch Material genug, um meine neue Challenge zu kreieren.

Hinweis 1: Von einem Schüler meiner Klasse (ich bin meinem Erstberuf als Primarlehrerin mit einem Teilpensum treu geblieben) bekomme ich nach seinen Ferien als Souvenir seiner Berlinreise ein kleines Brandenburger Tor geschenkt. Was er nicht weiss: Vor meiner Blutanämie-Diagnose war der Berlin-Marathon mit dem Zieleinlauf am Brandenburger Tor mein Lebensziel. Nach der Diagnose war sämtlicher Ausdauersport tabu und somit kam es nie zur Begegnung mit dem Brandenburger Tor. Ich erzähle ihm die Geschichte und er meint trocken: «Sie können das Tor ja auch als Touri besuchen». Wo er recht hat, hat er recht. Nur ist damit mein Sportler-Ich nicht zufrieden zu stellen.

Hinweis 2: Während mein holländischer Physiotherapeut meine vom letzten Meisterschaftstag «zerfetzte» Wadenmuskulatur malträtiert (ich meine natürlich "therapiert", es fühlt sich nur gerade anders an) versucht er mir durch die Blume zu erklären, dass meine Beine wohl nicht mehr den gleichen Einsatz leisten können wie vor 20 Jahren und ich eventuell die Sportart wechseln sollte. So nebenbei erwähnt er den 4x 40km Marsch in Nijmegen (Holland).  Zur Erklärung: Ich spiele nur noch ab und zu in einem Frauenteam und trug in den letzten zwei Jahren nicht nur Medaillen, sondern auch zwei üble Muskelfaserrisse heim.

Hinweis 3: Ich bin ab und zu (manchmal auch abends spät) auf der Suche nach einem Wanderbuddy, der mit mir irgendeinen spontanen Einfall erwandert. So auch an einem Samstagabend Anfang September 2024 – der grosse Mythen steht auf dem Programm. Auch dieses Mal meldet sich jemand aus meinem Freundeskreis – die liebe Lea aus dem Kanton Zug. Während dem doch recht steilen Aufstieg haben wir noch genügend Energie zum Quatschen und merken schnell, dass wir beide die eine oder andere crazy Idee im Kopf haben. Ein Stichwort von Lea blieb bei mir hängen: «1x zu Fuss um den Zürichsee – am Stück».

Mein Gehirn rattert und kreiert einiges zusammen und dank Google bringe ich es auf einen klaren Nenner: Gibt man «Brandenburger Tor» aus Hinweis 1, «Marsch» aus Hinweis 2 und «100km am Stück» aus Hinweis 3 ein, so erscheint ein Hinweis, der klarer nicht sein kann:
MAMMUTMARSCH BERLIN. 100KM IN 24 STUNDEN. ZU FUSS.
Noch ein passendes Youtube-Filmchen dazu und meine nächste Challenge ist klar!
Und da ich die 72-Stunden-Regel bestens kenne (und in meinen Coachings sogar empfehle, diese Regel auf 48-Stunden zu kürzen), muss ich auch gleich eine erste Tat folgen lassen…



Folge 2: Naive Entscheidung und erste Zweifel

September 2024

Gedacht, getan: Keine 48 Stunden nach dem Google-Ergebnis «Mammutmarsch Berlin» schreibe ich Lea folgende Nachricht:















Bis zu diesem Zeitpunkt kenne ich Lea nicht wirklich gut, aber was ich definitiv sagen kann: Ich habe jemanden gefunden, der genau so crazy denkt und vor allem schnell und überzeugt handelt wie ich. Für mein Projekt habe ich also schon eine äussere Verbündete gefunden. Als Mental Coach weiss ich, dass die ersten Zweifel sich kurz nach Beenden einer ersten Euphorie-Phase melden und erledige die ersten Schritte deshalb, bevor sich Mr. Zweifel bemerkbar macht. Keine weiteren 24 Stunden später besitze ich also ein Startticket, ein Zugbillett nach Stuttgart und auch eine B&B-Bleibe ist gebucht. Es gibt kein Zurück mehr. In der festen Überzeugung, heldenhaft gehandelt zu haben, lege ich mich zufrieden ins Bett und schlafe positiv gestimmt ein.

Als wäre er unterdrückt worden, meldet sich Mr. Zweifel am nächsten Morgen mit lauter Stimme. (Zur Erklärung: Meinen inneren Stimmen gebe ich Namen, damit ich sie besser beschreiben kann. Keine Angst, das ist kein psychischer Knacks, es handelt sich um meine verschiedenen Gedanken, welche ich mit dieser Methode besser einordnen und steuern kann).
Wir sind bei Mr. Zweifel stehen geblieben, der sich nach meiner naiven? «Anmeldungs-Euphorie» heftig zurückmeldet. «Und was, wenn es regnet?» «Stehen Toiletten auf der Wanderstrecke?» «Welchen Rucksack nehme ich mit? Und was nimmt man mit auf eine circa sechsstündige Wanderung…» «… in einer Stadt, die ich nicht kenne?»
Ein paar Mammutmarsch-Youtube-Filmchen als Vorbereitung sollen Beruhigung schaffen, doch Mr. Zweifel findet darin weitere Argumente und prescht weiter auf mich ein: «Meine Wanderschuhe sind gut für die Berge, aber doch nicht für einen Stadtmarsch.» «Ich habe keine passenden Schuhe» «In den Filmen schmieren sich alle die Füsse mit Hirschtalg ein. Was um Himmels Willen ist Hirschtalg?»
Ich könnte die Liste noch weiter füllen, aber bevor ich euch damit langweile, schildere ich lieber, wie es nach dem «Zweifel-Sturm» weiter geht.



Folge 3: Schuhe, Blasenpflaster und erste Trainingsmärsche

September 2024

In vier Wochen ist es also soweit und ich bestreite meinen ersten Mammutmarsch. «Ohne grosse Vorbereitung, einfach mal los und schauen, wie das so abgeht…“ war der eigentliche Plan. „Sind ja nur 30km“. Dass dieses Vorhaben ohne geeignete Schuhe nicht funktionieren wird, ist mir klar. Also besteht die erste Mission darin, geeignete Schuhe zu kaufen. Nach einer kompetenten Beratung und ein paar Franken weniger in der Tasche besitze ich die hoffentlich perfekten Marschschuhe. Die Tasche, welche mir die Verkäuferin anbietet, lehne ich dankend ab – es ist ja nur ein Paar Schuhe.
Raus aus dem Sportgeschäft – rein in die Apotheke:
„Grüezi, ich möchte gerne Blasenpflaster für die Füsse kaufen.“
„An welcher Stelle ist die Blase?“
„Das weiss ich jetzt noch nicht.“
Die Verkäuferin schaut mich verdutzt an und so erkläre ich der lieben Dame mein Vorhaben, lasse mich beraten und verlasse die Apo kurze Zeit später mit Pads aller Art, die wahrscheinlich für die nächsten 20 Märsche reichen. Und wenn ich schon dabei bin, sollte ich mir doch vielleicht mal eine gute Regenjacke kaufen. Also wieder rein ins Sportgeschäft. Und schliesslich gehören zu einer Marsch-Regenjacke auch Marsch-Handschuhe und eine Marsch-Mütze dazu, oder nicht? Und wie ist das eigentlich mit den nahtfreien Unterhosen? Dieses Verhalten nenne ich in meinen Coachings „Zweifel-Attacken“. Die Zweifel werden ernst genommen und mit überlegten Handlungen „attackiert“. Wie überlegt meine Handlungen in diesem Moment sind, sei dahingestellt. Auf jeden Fall nehme ich dieses Mal die angebotene Tasche gerne zu meinen Einkäufen dazu. 


So viel zum Thema „Ohne grosse Vorbereitung, einfach mal los…“

Die Basisausrüstung stimmt erst mal, aber ich weiss immer noch nicht, wie sich 30km anfühlen. Ich gehe viel wandern und bin ab und zu mal einen ganzen Tag zu Fuss unterwegs, aber mehrheitlich geradeaus und in einem zügigen Tempo, das soll ja was ganz anderes sein. Also mache ich mich auf und absolviere ein paar Trainingsmärsche. Um die Familienzeit nicht zu arg zu strapazieren, starte ich jeweils früh morgens und bin dann entweder zum Frühstück wieder zurück oder marschiere an den Ort, wo sich meine Familie aufhält (z.B. an ein Meisterschaftsspiel meiner Kids). Und so sammle ich in den nächsten vier Wochen meine ersten Marschkilometer – 17km um den Flughafen, 20km um den Greifensee, 23km zu einem Sportplatz. Da mir bewusst ist, dass ich nicht nur für den Wettkampf, sondern auch den Wettkampf trainieren soll («Trainiere den Wettkampf» vs. «Trainiere für den Wettkampf») probiere ich auch Stirnlampe, Navigationstool und das Marschieren in der Dunkelheit aus. Dabei merke ich, dass ich mit einer Akkuladung unmöglich einen ganzen Marsch mit dem Handy durchnavigieren kann, meine Stirnlampe viel zu schwach ist und meine Sichtbarkeit nach der Dämmerung auf dem Nullpunkt ankommt. Ihr ahnt, wie es weitergeht und welche Einkäufe ich noch kurz vor dem ersten Startschuss erledigen muss.

Wie war das nochmal? «Ohne grosse Vorbereitung, einfach mal los und schauen, wie das so abgeht…“


Folge 4: Mammutmarsch Stuttgart, 30km - Die geilste Banane und andere Leckerbissen

Oktober 2024

So stehe ich also ein paar Tage später zusammen mit Lea («ohne grosse Vorbereitung», versteht sich) in der Startschleuse am Mammutmarsch in Stuttgart und warte auf den Startschuss. Was heisst da «Startschuss»? Was uns da erwartet ist eher ein «Aufbäumen der Mammutherde vor dem grossen Marsch durch die Wildnis». Schon beeindruckend, welch tolle Stimmung ein Speaker und ein paar hundert motivierte «Mammuts» (so nennen sich die Mammutmärschler) raushauen. Fasziniert und mit genügend Startadrenalin geht es also los auf die 30 Kilometer in der Gegend um Stuttgart. Während meinen stundenlangen Recherchen («ohne grosse Vorbereitung», versteht sich) habe ich immer wieder von den Verpflegungsstationen, den VPs, gelesen und mich besonders auf diese speziellen Stationen gefreut. Nach den ersten sieben Kilometern stehen wir total überrascht bereits am ersten VP. Ich habe da ein paar Müesliriegel, etwas zu Trinken und etwas Obst erwartet. 

Aber was da geboten wird, ist der absolute Wahnsinn. Nach einer Waffel (also bitte, wie cool ist das denn: eine Waffel! Nur leider hat sich die Büchse mit Vanillesauce als Essigkurgen-Pot entpuppt), einer Banane und frischem Tee (OMG, der beste Tee der Welt!) reisst mich Lea mit einem «Hey, wir müssen weiter» aus dem Paradies. Und übrigens: Das war nicht irgendeine Banane! Das war die leckerste und motivationsschubendse Banane, die ich je gegessen habe (da verliere ich sogar meine Grammatikkenntnisse 😊). Die lieben Volunteers nehmen sich Zeit, um Motivationssprüche auf die Bananen zu schreiben. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gut das in einem solchen Moment tut. Naja, okay, es sind erst sieben Kilometer vergangen, aber trotzdem: es fühlt sich wunderbar an!
Es geht also weiter, gefühlt nur bergauf. Nach den nächsten knapp 10km und einem weiteren Aufstieg erreichen wir das Schloss Solitude mit dem nächsten VP.  Noch völlig «geflasht» von den Motivationsbananen und der Waffel beschliessen wir, hier keine Pause einzulegen und weiter zu marschieren.
Eventuell war das ein Fehler, denn nur ein paar Kilometer weiter machen sich die ersten (kleinen!) Blessuren bemerkbar. Ich spüre Schmerzen in meiner Hüfte, Leas Tempo ist mir eventuell doch etwas zu hoch (habe ich schon erwähnt, dass meine «Gordine» (das ist eine andere Geschichte) fast 20 Jahre jünger ist als ich?) und dass da überall Leute sind, die bekloppt in der Gegend herumlatschen, fand ich dann auf einmal auch nicht mehr so toll. «Aha» – meldet sich der Sport Mental Coach in mir und analysiert die Situation streberhaft: «Die obligatorische Krise! Da findet man alles doof». Meine Gedanken auf den nächsten zwei bis drei Kilometern spielen verrückt und gefühlt jeder Teil in mir muss seinen Senf dazugeben (unkontrollierte Selbstgespräche). Von «was mach ich da überhaupt?» über «nach äm Rege schiint d’Sunne…» (wer kennt dieses bescheuerte* Sprichwort nicht?) bis «nur weiter, wenn die Krise überwunden ist, geht’s einfacher.»

*Das Sprichwort ist überhaupt nicht bescheuert, aber in einem solchen Moment fühlt es sich wahnsinnig bescheuert an und vor allem dann, wenn man die Liederversion von Peach Weber kennt und deren Melodie sich ungewünscht im Kopf einnistet: Nachem räägne, chunnts go schiffe, nachem schiffe, do seichts...

Ich möchte euch nicht weiter langweilen mit meiner Krise, sie dauert tatsächlich auch nur wenige Kilometer an. Und ihr könnt euch nicht denken, was mich aus diesem Zwischentief geholt hat. Nein, kein Tool aus meinem Fachgebiet. Nein, auch nicht Leas gutes Zureden. Und nein, auch kein positives Denken. Es ist viel wertvoller, viel spezieller, viel magischer und vor allem viel wirkungsvoller: Ein Milchbrötchen am nächsten VP (ja genau, das sind die labbrigen Dinger, die meine Kinder immer wollen und nie kriegen). Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie geil ein Milchbrötchen nach 22km schnellem Gehen und während einer Zwischenkrise schmeckt – unbeschreiblich.

Von der Krise ist danach jedenfalls nichts mehr zu spüren und nach diesem wahnsinnigen kulinarischen Highlight geht es frohen Mutes auf den letzten Drittel der Strecke. Diesen geniesse ich tatsächlich in vollen Zügen (im Milchbrötchen-High). Ich glaube, ich rede recht viel (Hauptthema: Essen) und alles fühlt sich auf einmal so sinnvoll und so toll an. Auch die vielen Mammuts um mich herum geben mir ein gutes Gefühl und die Sinnhaftigkeit meiner Tätigkeit stelle ich auch nicht mehr in Frage. Auf den letzten fünf Kilometern geben wir beide dann nochmals richtig Gas und marschieren nach knapp sechs Stunden reiner Marschzeit durchs Ziel.
In meinen Vorbereitungs-Youtube-Recherchen habe ich von diversen Mammuts gehört, dass sich die Wahrnehmung nach einer Anzahl marschierter Kilometern verändert. Zugegeben, das waren Mammuts, die sich an die 100km-Märsche wagten, doch trotzdem nimmt es mich wunder, wann dieser Zeitpunkt eintritt, und so stelle ich im Ziel eine für mich hochinteressante Frage an Lea: «Was denkst du, wie viele Kilometer muss man gehen, bis man nur noch Mist labbert?» Ihre Antwort ist kurz und klar: «Bis zur ersten bemalten Banane.»


Folge 5: Wo sind meine Grenzen?

Oktober 2024

Schritt eins «Einfach mal los und schauen, wie das so abgeht» ist also getan. Ich bin jetzt gar nicht sicher, ob ich glücklich darüber bin, dass ich den 30km-Marsch «so easy» geschafft habe oder traurig darüber, nicht wirklich an meine Grenzen gekommen zu sein. Das Google-Ergebnis «100km in 24h» lässt mich noch immer nicht los und ich möchte wissen, wo meine Grenzen sind. So liege ich am Abend nach meinem ersten Marsch im Bett in einer B&B-Bleibe in Stuttgart und google die nächsten Marsch-Events, was sich als nicht ganz einfach entpuppt, da das Saisonende schon vor der Tür steht. Bei einem anderen Langmarsch-Organisator finde ich eine Veranstaltung, die in meine Agenda passt: Megamarsch in Nürnberg - 50 Kilometer in 12 Stunden. Mr. Zweifel meldet sich nur kurz und hat dieses Mal auch nur ein einziges Argument gegen mein Vorhaben: «Und deine Familie?» Wo ein Ziel ist, ist auch ein Weg antwortet ihm «die Ehrgeizige» und so starte ich so sanft wie möglich eine Whatsapp-Konversation mit meinem Mann.

















Aus taktischen Gründen ein paar Minuten später:


















Ihr kennt die 72-Stunden-Regel, oder? Und auch, dass ich meinen Kundinnen und Kunden empfehle, diese auf 48 Stunden zu kürzen? Und genau deshalb besitze ich keine 24 Stunden später, kurz nach der Rückkehr aus Stuttgart, das nächste Marschticket, zwei Bahntickets nach Nürnberg und die Bestätigung eines Wellnesshotels (mit S-Bahnverbindung zum Marschstart).

Die vier Wochen zwischen Stuttgart und Nürnberg verbringe ich mit dem normalen Alltagsleben einer Mutter/Lehrerin/Mental Coach. An den Wochenenden bestreite ich weiterhin mindestens einen Trainingsmarsch von 15 bis 25 Kilometern. Der Satz «ohne grosse Vorbereitung» stimmt ja schon seit dem Zeitpunkt, als ich ihn geschrieben habe, nicht mehr und verliert in den nächsten Tagen weiter an Bedeutung. Dieses Mal fühlt es sich auch nach einem konkreten Plan mit einem Ziel an. Ein Ziel nach der SMART-Methode enthält den Faktor «attraktiv». Wenn ich ganz ehrlich bin, dann waren die 30km in Stuttgart zu wenig attraktiv, damit ich von einer wirklichen Zielerreichung sprechen könnte. Das ursprüngliche Ziel «einfach mal los und schauen, wie das so abgeht» passt schon besser zum Vorhaben von Stuttgart. Wobei dieser Satz nicht wirklich ein Ziel darstellte, sondern eher als «Slogan» zu verstehen ist, ein Grund, etwas auszuprobieren.
Das Projekt «50km in 12h» fühlt sich ernsthafter an. Es fühlt sich eher nach einer Grenzerfahrung an als die 30km und so ist auch der Respekt davor grösser und meine Vorbereitungen (noch) seriöser. Es folgen keine grossen Equipment-Ausgaben, sondern körperliche Vorbereitungen wie Wadenmuskeln stärken, Hüftentzündung therapieren, Fussgelenke kräftigen, Fusssohlen weich halten und damit Blasen vorbeugen (Geheimtipp: Vaseline) und, so peinlich es auch tönt: Blasentraining (in Nürnberg wird es nur noch alle ca. zwei bis drei Stunden Verpflegungs- und WC-Möglichkeiten geben).
Ob diese Vorbereitungen reichen, werde ich in ein paar Tagen erfahren.


Folge 6: Megamarsch in Nürnberg, 50km - Komme ich an meine Grenzen?

November 2024

Ganz nach meinem Firmenmotto «no luck – pure skill» packe ich am Vorabend des Marsches meinen Rucksack. Ich beeinflusse so viel wie möglich und möchte die Kontrolle (mindestens übers Material) behalten. Die Gegenstände sind in einzelne Säcke und Boxen abgepackt und fein säuberlich angeschrieben, um während der Marschzeit den Überblick zu behalten (auch im Falle, dass sich nach ein paar Stunden pausenlosem Marsch meine geistigen Fähigkeiten verringern sollten – so, wie ich es in einigen Vorbereitungsfilmen gesehen habe). Der Rucksack ist also gepackt.

Am nächsten Morgen stehe ich in der Startschleuse mit dem Wissen, wie lange die Strecke ist und mit dem Unwissen, wie mein Körper und mein Kopf darauf reagieren werden. Für ein solches Vorhaben ist es wertvoll, sich selbst gut zu kennen und gewisse Gelingensbedingungen danach zu richten. Ich weiss, dass der Faktor Heimweh bei mir energisch anklopft und eine unangenehme Eigendynamik entwickelt, sobald ich in einer Grossstadt unterwegs bin und noch heftiger, wenn ich es allein tue. Es gilt also, diesen möglichen Spielverderber knockout zu setzen, bevor er sich wagt, sich aufzubäumen. Massnahme 1: Mein Mann begleitet mich auf dem Weg vom Hotel bis zum Start – das tut gut! Massnahme 2: Ich nehme mir vor, unterwegs Kontakte zu knüpfen, um immer wieder ein paar Kilometer gemeinsam mit anderen marschieren zu können. Und ganz ehrlich bin ich auch mega gespannt, was andere Menschen dazu bewegt, hier mitzumachen und freue mich darauf, berührende Lebensgeschichten zu hören.

Der Marsch geht los und schon in der ersten Kurve erkenne ich die zwei Typen, welche mich beim Start gebeten haben, ein Foto von ihnen zu machen. Ich geselle mich zu ihnen und frage, ob es okay ist, wenn ich ein paar Schritte mit ihnen gehe. Elf Stunden später sind wir noch immer zu dritt unterwegs und rennen (!) gemeinsam ins Ziel.


Aber nun der Reihe nach: Die ersten gut sechs Stunden läuft alles recht flott. Wie es auf den ersten 30 Kilometern «so abgeht», weiss ich ja bereits von Stuttgart und die kleinen Aufs und Abs bringen mich nicht aus der Ruhe. Die VPs liegen in weiterer Entfernung auseinander als in Stuttgart und so benötige ich auch etwas länger Zeit pro Station, um meinen Essens- und Trinkvorrat aufzufüllen, das Toitoi zu besuchen und die Kleidung anzupassen. Noch liegen die Blasenpflaster, Tapes und Salben unangetastet im Rucksack. Noch…

Am VP bei Kilometer 30 wartet mein Mann auf mich - voll gechillt und mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Ganz so gechillt fühle ich mich nach 30 Kilometer nicht mehr, aber ich freue mich dennoch sehr, ihn zu sehen. Und es wartet an dieser Station noch ein Highlight auf mich: Eine Portion Linsensuppe. Ich hätte nie gedacht, dass mich eine Linsensuppe mal eben auf einer Gefühlsskala von 1-10 auf eine 11 katapultiert. Oder ist das schon die verschobene Wahrnehmung? Egal, es ist in diesem Moment gerade das beste, das leckerste, das obergenialste Essen der Welt.
Ich spüre ein Ziehen in meinen Oberschenkeln und möchte die 1-2 Minuten, die ich in der Toitoi-Warteschlange stehe, dazu nutzen, die Beine etwas zu dehnen. So, wie ich das immer mache, «spicke» ich den Fuss nach hinten in meine Hand, um den Oberschenkel zu dehnen. Das ist ein Fehler! Beine, die seit sechs Stunden nichts anderes machen, als zu marschieren, verlieren ihre Flexibilität und sparen die Energie für die Tätigkeit, die sie brauchen. Alle anderen Bewegungen sind kaum mehr möglich. Und vor allem nicht in diesem Tempo. Es zerrt ganz schön und die Schmerzen sind jetzt definitiv grösser als vorher. Aufgeben ist keine Option und so geht es nach ein paar Minuten weiter in Richtung Ziel.

Die nächsten 20 Kilometer sind tatsächlich komplett anders als die ersten 30. Der Körper beginnt, komische Sachen zu «produzieren», die rational nicht mehr nachzuvollziehen sind. Es machen Gelenke und Muskeln auf sich aufmerksam, als würden sie um ihre Existenz buhlen. Auch meine beiden Wanderbuddies kämpfen mit einigen Spielverderbern. Und viele andere auch. Gefühlt in jeder Kurve stehen Märschler, welche sich entschieden haben, den Marsch abzubrechen und auf den nächsten Bus oder aufs Taxi warten. Auch sehe ich vermehrt Leute, die am Wegrand sitzen und ihre Blasen abkleben oder sich die Füsse verbinden. Da geht es mir mit meiner Oberschenkelzerrung ja noch recht gut… Wenn es stark bergab geht, muss ich rückwärts gehen, aber sonst kann ich recht gut mit diesem Handicap leben, äh marschieren. Es dreht sich nur noch alles ums Marschieren (irgendwie extrem cool, fast meditierend, wenn du nur noch ein Thema im Kopf hast aber irgendwie auch anstrengend, wenn es nicht enden will). Wer kennt das Kinderlied «Esel lauf mit» von Andrew Bond aus der Weihnachtsgeschichte?  Leicht abgeändert (nur den Zielort geändert) begleitet mich der Refrain die letzten 15 Kilometer und ich wünsche mir, es nicht zu kennen.
«Esel lauf mit, Schritt für Schritt, feschtä Tritt, langsame Gang. Stock und Stei, müedi Bei, dä Wäg nach Nürnberg isch no lang.»
Warnung an alle Märschler da draussen in der deutschsprachigen Welt: Lied nicht googeln, nicht spotifyen und schon gar nicht die CD kaufen. Einmal gehört wird es euch auf Schritt und Tritt bei eurem Hobby verfolgen.
Oder ist es vielleicht genau das, was ich in diesem Moment brauche? Ein Handlungsauftrag an meine Beine, welcher ich mantramässig wiederhole. Wobei das Wort «ich» etwas übertrieben ist. Es erweckt den Eindruck, als könne ich mich noch komplett selbst steuern. Ehrlich gesagt müsste ich den Satz wie folgt schreiben: Ein Handlungsauftrag an meine Beine, welcher sich mantramässig in meinem Kopf wiederholt (und mich zwischenzeitlich ganz schön NERVT!).

Mittlerweile ist es dunkel und wir latschen, mit Stirnlampen und Reflektoren bewaffnet, durch die Dunkelheit. Davor hatte ich grossen Respekt und bin positiv überrascht, welche gemütliche Stimmung die Dunkelheit bringt.

Die Idylle wird nur durch die Schmerzkreativität meines Körpers getrübt. Diese ist dafür verantwortlich, dass sich immer wieder andere Stellen meines Körpers melden. Der wohl dümmste Ort dafür ist zwischen meinen Pobacken. Ich habe bisher auf der Strecke einige Männer gesehen, die vom «Wolf» geplagt werden und sich deshalb fortbewegen, als hätten sie in die Hose ge…. Meine männlichen Begleiter haben mich dann aufgeklärt, dass das Gegenstück des «Wolfes» der «Bär» sei. Scheissegal, welches Tier sich bei mir eingenistet hat, es ist einfach unangenehm schmerzhaft. Am letzten VP, ungefähr zehn Kilometer vor dem Ziel, muss dann die erste Salbe her. (Keine Angst, davon gibt es weder eine Schilderung noch Fotos.)

Märschler, die zu diesem Zeitpunkt komplett blasenfrei sind, gibt es weniger als solche, die sich schon eine halbe Packung Pads an die Füsse geklebt haben. Ich bin überglücklich, dass ich zur «blasenfreien Gäng» gehöre. Da haben sich die Zusatzfränkli für die guten Schuhe und das allabendliche Eincremen mit Vaseline wohl gelohnt.

Die nächsten zwei Stunden verbringe ich damit, meinen Gedanken zuzuhören. Diese beschäftigen sich abwechslungsweise mit dem Esel (Lied), dem Bären (Schmerz) und dem Wolf (nein, nicht der an den Oberschenkeln, sondern der im Bauch: Hunger). Während meinem tierischen Gedanken-Schlagabtausch entgeht mir fast eine ultrawichtige Tafel: Nur noch 1 KM! DU BIST MEGA! ZIEH DURCH! In diesem Moment geschieht etwas Spannendes: Irgendwie tut gerade nichts mehr weh und ich freue mich riesig auf den Zieleinlauf. Erst gerade war das Ziel noch so brutal weit entfernt und jetzt habe ich es vor der Nase.

Falsch geglaubt: Ich marschiere gerade den längsten Kilometer meines Lebens. Und ich möchte jetzt von keinem Streber unter euch hören «Ein Kilometer ist immer gleich lang». Dann marschiert doch bitte mal 49km lang und begebt euch auf den letzten Kilometer und dann werdet auch ihr ein physikalisches Wunder erleben: Dieser Kilometer ist NICHT gleich lang, wie alle anderen Kilometer auf diesem Planeten!!! Ende der Diskussion! Er hört nicht auf und es macht es nicht besser, dass alle 100m ein neues Schild aufgestellt ist, welches dir (gut gemeint) mitteilt, wie lange es noch geht. Und es macht es auch nicht besser, dass dir viele Menschen mit einer Megamarsch-Medaille umgehängt entgegenkommen, die das Ziel bereits erreicht haben und halluzinativ zur S-Bahnstation torkeln.

Oh HALT! Wo rennen meine beiden Wegbegleiter auf einmal hin? Denken funktioniert eh nicht mehr, also nichts wie hinten drein…
Und fast zeitgleich höre ich die Speakerdurchsage: «Da kommen die nächsten drei ins Ziel – sprintend, unglaublich! Gratulation, ihr habt es geschafft!»

Das waren sie also, die 50km in Nürnberg! Ich habe es geschafft. Zusammen mit zwei interessanten Wegbegleitern – Danke euch beiden!

Im Ziel wartet mein Mann auf mich (dieser Satz stimmt nicht ganz, die 100%ige Wahrheit erzähle ich euch gerne persönlich, aber jetzt geht es wahrheitsgetreu weiter: ) Er umarmt mich und fragt mich hoffnungsvoll: «Und, bist du endlich an deine Grenzen gekommen?» Ohne zu überlegen antworte ich überzeugt: «Nein, sonst würde ich jetzt nicht da stehen.»
Ich verschiebe die Analyse dieser Antwort besser auf morgen oder übermorgen. Nun möchte ich einfach nur noch schlaaaaafen…. Und vorher noch meinen Bärenhunger (oder war es der Wolf?) stillen.

Meine letzten zwei Statusfotos möchte ich gerne noch mit euch teilen. Sie sind vor allem für all diejenigen, welche sich durch social media Fotos gerne leiten lassen und denken, dass das die volle Wahrheit ist.

        

                    Foto 1: social media tauglich

           GESCHAFFT! Geiles Gefühl

                      Foto 2: real life – Picture

   so sieht man nach gut 80'000 Schritten aus




p.s.1: Von wegen “blasenfreie Gäng»… Zurück im Hotel heisst es: Aus den Schuhen und aus den Socken und da entdecke ich drei Blasen am rechten Fuss – so gross, dass sie fast zu einer Gesamtblase zusammengewachsen sind. Warum nur habe ich nichts gespürt? War der Oberschenkelschmerz so stark oder der Bär zu mächtig? Oder war es doch die verschobene Wahrnehmung? Es ist mir so was von egal, warum dies so ist, ich bin froh, die Blasen nicht gespürt zu haben und ich wenigstens eine partielle Mitgliedschaft in der «blasenfreien Gäng» aufweisen kann. 

p.s. 2: Ich habe mich so fest auf die Dusche und den Schlaf danach gefreut. Problem 1: Ohne Hilfe komme ich nicht mehr aus der Dusche (weil Badewannenrand zu hoch) und Problem 2: Nach 50 Kilometer spürst du keine allgemeine Müdigkeit wie nach einem anstrengenden Wandertag. Nein, es ist eine schmerzende Müdigkeit – du spürst jeden einzelnen Muskel von der Hüfte abwärts, sogar jeder einzelne Zeh schmerzt. Das hatte ich noch nie zuvor. Ich versuche, mich selbst zu täuschen und plagiiere einige Male «Es geht mir blendend», bis ich erschöpft einschlafe (und hoffe, in der Nacht nicht auf die Toilette zu müssen – ich wüsste nicht wie…)


p.s. 3: Am Tag danach pflastere dann auch ich meine Füsse (bzw. den einen Fuss) mit Blasenpads voll. Aber hey: Wir ziehen die vereinbarte Stadtbesichtigung durch und es geht mir BLENDEND (das antworte ich auf jeden Fall jedem, der mich nach meinem Zustand fragt). Die Altstadt ist echt schön und auch schön gross und so werden bei der Stadttour nochmals knapp 15'000 Schritte vermerkt (ein Teil davon rückwärts :-)


Folge 7: Wenn der Mentalcoach einen Mentalcoach nutzt

Dezember 2024

Auch wenn es in der Schilderung wenig betont wird: Ich habe den Marsch in Nürnberg über weite Strecken wirklich genossen. Ich fühle mich privilegiert, solche Ereignisse miterleben zu dürfen und die gemachten Erfahrungen finde ich ultraspannend. Und: ich bin noch nicht satt…

Eine Szene geht mir aber nicht aus dem Kopf. Ihr erinnert euch bestimmt an die erste Frage meines Mannes kurz nach dem Zieleinlauf: «Und, bist du endlich an deine Grenzen gekommen?» Und meine saloppe Antwort: «Nein, sonst würde ich jetzt nicht da stehen.» Warum kann ich nicht einfach mal zufrieden sein? Warum spürte ich nach dem Marsch keinen Stolz oder keine Ultrafreude? Ich hatte richtig viele tolle Momente während den 50 Kilometern und bin dankbar für jede Begegnung, für jedes kulinarische Angebot, für die vielen Volunteers, für die schöne Strecke und für die spannenden Erfahrungen, die ich machen durfte. Aber im Ziel empfand ich nicht das, was ich mir erhofft hatte, und das ärgert mich - auch ein paar Tage danach noch. Habe ich mein eigenes Motto «Der Weg ist das Ziel» so sehr verinnerlicht, dass der Zieleinlauf nicht relevant war? Oder habe ich den Zieleinlauf so akribisch visualisiert, dass er keine Überraschung mehr für mich war? Oder war mein Fokus falsch ausgerichtet?

Das Thema lässt mir keine Ruhe und so greife ich zu einem Tool, welches ich mit Wettkampfsportlern oft einsetze, um den Wettkampf gewinnbringend analysieren zu können: Die 5A-Analyse. Dies bringt etwas Klarheit, aber noch nicht die gewünschte Erkenntnis. Es ist ja auch schizophren, wenn ich gleichzeitig Klient und Mental Coach bin. Da muss ein Coach mit einer professionellen Aussenperspektive hin und deshalb vereinbare ich bei einem Berufskollegen einen Coaching-Termin.
So sitze ich also für einmal auf der «anderen Seite» und beantworte ganz viele Fragen. Fragen, die zum Teil recht unangenehm sind, mich aber ins Denken bringen. Es ist anstrengend und gleichzeitig auch schön zu merken, dass es vorwärts geht. Ich verzichte darauf, den ganzen Coachingprozess zu schildern. Quintessenz: Mein Sorgenkind sind die Gefühle und es gilt nun, daran zu arbeiten. Ideen und Aufträge dazu sind im Coaching genügend entstanden.

Und mal ganz ehrlich: Seit Google mir ein pfannenfertiges Ziel ausspuckte, nämlich 

MAMMUTMARSCH BERLIN. 100KM IN 24 STUNDEN. ZU FUSS.
schwirren in meinem Kopf die 100 Kilometer herum. Nach Stuttgart weiss ich, «wie das so abgeht» und nach Nürnberg weiss ich, dass die 50km-Strecke noch nicht meine Grenze ist. Auf was warte ich also noch?
Der nächste Schritt ist fällig…


Folge 8: Alles oder nichts: Die Anmeldung zum 100er
Januar 2025

Ist jetzt bzw. in diesem Jahr der richtige Moment, um beim 100er an den Start zu gehen? Oder besser nächstes Jahr? Ach Quatsch, was soll denn bitte nächstes oder übernächstes Jahr anders oder sogar besser sein? Ich will wissen, wo meine Grenzen sind. Ich will das Ding versuchen, also nix wie los, her damit!

Vor der Anmeldung prüfe ich die Daten und stelle mit Schrecken fest, dass der 100er in Berlin bereits Mitte Mai stattfindet. Die Beschreibung des Anlasses tönt super verlockend, vor allem dieser Satz: Und als absolutes Highlight laufen wir gemeinsam durch das Brandenburger Tor und direkt an der Siegessäule vorbei! 

(aus: www.mammutmarsch.de)
Ich rechne kurz zurück und meine Vernunft sagt mir klar und deutlich: No way! Diese Vorbereitungszeit ist definitiv zu kurz. Wenn ich das Ding angehe, dann möchte ich mich auch ernsthaft darauf vorbereiten und dafür reichen vier Monate nicht – nicht in meinem Alter. Und vor allem nicht in der Winterzeit.

Das soll aber kein Grund sein, die 100er nicht zu versuchen. So trenne ich mich also (vorerst) von meiner Lieblingsstadt. Habe ich gerade Lieblingsstadt geschrieben? Ich war noch nie in meinem Leben in Berlin aber diese Stadt fasziniert mich seit meiner Kindheit. Seit ich den Mauerfall im Fernsehen mitverfolgt habe und seit ich im Gymnasium den Roman «Berlin Alexanderplatz» von Alfred Döblin lesen musste (ich weiss von dessen Inhalt rein gar nichts mehr, aber komischerweise kann ich mich immer noch an den Titel erinnern) und eben: seit ich das erste Mal den Berlin Marathon im Fernsehen gesehen habe. Und immer wieder dieses Brandenburger Tor... Egal jetzt, warum ich mal nach Berlin fahren möchte. Es wird auf jeden Fall nicht im kommenden Mai sein.

So sehe ich mir alle 100er auf der Mammut- und Megamarschliste 2025 durch, doch keine Stadt schafft es, mich zu «packen». 

War's das jetzt?

Ich erinnere mich an die Wanderung im September mit Lea, als wir den grossen Mythen bestiegen haben. Da erwähnte sie doch Zürich: In 100km um den Zürichsee. Das könnte es sein! Schnell die Vor- und Nachteile abwägen (Heimvorteil, schöne Gegend, kurze Anreise, jederzeit aussteigbar – die S-Bahn fährt mich von jeder Station nach Hause, meist sogar direkt (ist jetzt das ein Vor- oder Nachteil?). Einziger (allerdings grosser) Nachteil: Der Event findet im August statt. Da könnte eine brütende Hitze herrschen. Auch wenn ich einen grossen Respekt vor der möglichen Hitze habe, überwiegen die Vorteile eines Heimevents eindeutig. Ein paar Youtube-Filmchen über Rockandhike der vergangenen Jahre (habe ich da tatsächlich "Ghackets mit Hörnli" gesehen?) und ein paar Google-Recherchen später ist der Fall klar: Da muss ich hin.



Keine 48 Stunden später gibt es kein Zurück mehr. 

Das Ticket ist gebucht.

(Bild 1: www.rockand.ch, Bild 2: Facebook, Gruppe "Rockand")









Folge 9: Zieldefinierung, Zielbild und Zeitplan

Januar 2025

Hut ab vor all den Menschen, welche die 100km-Challenge ohne Vorbereitung geschafft und im Netz gepostet haben. Ich habe mir einige Videos angeschaut und weiss ganz genau: Das ist nichts für mich! Da wäre mein Scheitern schon vorprogrammiert. Und vor allem könnte ich keinen einzigen Kilometer geniessen.

Nun nutze ich mein eigens erschaffenes Theoriemodell zu Leistung und Erfolg*. Besonders der Teilbereich «Von der Vision zum Ziel» ist mir dabei eine grosse Hilfe. Ich nehme mir tatsächlich Zeit, das Modell mit meiner 100km-Idee durchzugehen und jeden Schritt sorgfältig zu durchleuchten. Dieses Mal meldet sich nicht der euch schon bekannte Mr. Zweifel, sondern «der Freak». Der Freak ist der Teil in mir, der spontane Entscheidungen liebt und der sich naiv, gut gelaunt, mutig und ohne gross zu überlegen in Abenteuer stürzt. Zur aktuellen Situation meint der Freak: «Chills mal, fahr abe… Du nimmst nicht an Olympia teil und du bist auch keine Spitzensportlerin also was soll der professionelle Quatsch?» Der Freak hat dieses Mal keine Chance, denn er hat «die Ehrgeizige», «die Sportlerin», «die Kämpferin», «den Streber», «die Entschlossene», «den Dickschädel» oder in einem Wort «den Widder» gegen sich.
Der Freak wird also schnell wieder still und so geht es weiter mit der Vorbereitung. Das offizielle Ziel des Organisators ist schon recht klar formuliert: 100km in 24 Stunden. Die wohl bekannteste Möglichkeit, ein Ziel sinnvoll zu formulieren, ist die SMART-Formel. Ich ziehe die PASST-Methode von Harald Dobmayer vor. So oder so muss das Ziel noch präzisiert werden und so sitze ich mit Stift und Papier an meinen Lieblingsort und formuliere einen für mich passenden Zielsatz. Kurze Zeit später steht gross und klar auf meinem Notizblock:


Am 31. August 2025 laufe ich um 9.00 Uhr** bei der Saalsporthalle in Zürich 
nach 100km Marsch über die rote Ziellinie.

 


Als Erklärung für alle Deutschen: Das Verb "laufen" bedeutet in der Schweiz "gehen" und nicht "rennen".  

In meinen Coachings zum Thema «Zieldefinierung» erstelle ich an dieser Stelle mit meinen Sportlerinnen und Sportlern, passend zu ihrem Wahrnehmungstyp, eine Konkretisierung, damit der Zielsatz besser transferiert werden kann. Meine stärkste Sinneswahrnehmung ist klar die visuelle und so erstelle ich für mich ein passendes ZielBILD. Nach einer kleinen Bastelrunde entsteht eine Art Collage, welche ich bereits jetzt in und auswendig kenne und «nur» noch mit den passenden Gefühlen bestücken muss.

Das Ende meiner Geschichte ist also klar definiert, formuliert und visuell dargestellt. Nun geht es darum, einen sinnvollen Zeitplan vom heutigen Tag bis zum 30. August zu erstellen. Kennt ihr das Spiel Tetris? Ungefähr so könnt ihr euch diesen Prozess vorstellen. Familientermine, Termine meiner Kids und meines Mannes, Verpflichtungen als Lehrerin und Sport Mental Coach und ein paar offizielle Marschtermine müssen nun in meiner Agenda Platz finden. Und zwar so, dass sie meinem Anspruch von «gefordert, aber nicht überfordert» gerecht werden.

Als Vorbereitung auf den 100er werde ich wie bis anhin an den Wochenenden einen Mini- bis Midi-Marsch einplanen und jede Gelegenheit nutzen, den Hin- oder Rückweg zu Fuss zurückzulegen (Geburtstagsbrunch, Wettkampftermine meiner Teenies, Weiterbildungstag usw.). Und drei offizielle Märsche habe ich auch gebucht:
März: 55km Mammutmarsch in München
Mai:   55km Mammutmarsch in Nürnberg
Juni:  60km Mammutmarsch in Mannheim

In den Berichten über die drei Märsche werdet ihr «alt bekannte» Personen wieder treffen – ich freue mich jetzt schon darauf, mit dem einen oder anderen wieder ein paar Kilometer zu wandern und zu quatschen.

Mein Vorhaben wird immer konkreter und ich freue mich bereits jetzt auf das Abenteuer «zu Fuss um den Zürichsee» Ende August 2025. Es kann mich nichts mehr aufhalten. Oder doch?

*Dieses ist das Kernstück meiner Diplomarbeit, welche ich für die Zulassung zur Prüfung für den eidgenössischen Fachausweis geschrieben habe.
** Die Zeit werde ich noch anpassen, sobald ich die definitive Startzeit erhalte
.


Folge 10: Endgegner ausschalten
Februar 2025

Um die 100km schaffen zu können, benötige ich eine 100%ige Leistung. Alle jetzt schon bekannten oder möglichen Störfaktoren möchte ich deshalb ausschalten, bevor sie sich als Spielverderber melden. So werde ich noch etwas «spatzig»* haben für Unvorhergesehenes und kann den Marsch hoffentlich mit mehr Freude und Genuss erleben. Ich halte mich dabei ganz an die einfache Formel:
Potenzial minus Störfaktoren gleich Leistung
Das Wort «Störfaktoren» tönt in meinen Ohren gerade etwas zu mild, oder wie wir Schweizer sagen zu «herzig». Immerhin besitzen die Störfaktoren die Fähigkeit, mein Vorhaben zu beenden, zu tilgen, zu zerstören. Also nenne ich diese Fieslinge lieber «E-N-D-G-E-G-N-E-R». Spürt ihr es auch? Ein leicht aggressives, aber hypermotiviertes Gefühl, gegen sie vorzugehen, sie zu bekämpfen… («Yeahh» der Wettkampftyp in mir ist gerade erwacht und ist voller Tatendrang). Die Macht der Sprache verstehen und für sich gewinnbringend einsetzen, das ist ein supernützliches und effektives Tool (und als Sport Mental Coach unglaublich spannend, es anzuleiten).

Dazu muss ich euch kurz eine Erfahrung aus meinen Coachings erzählen: Es geht um einen Leichtathleten (Sprinter), welcher sich ebenfalls mit den möglichen Störfaktoren und deren «Bewältigung» beschäftigt hat. Er definierte u.a. die vielen Zuschauer, die Medien, das helle/grelle Stadion und die zum Teil arroganten Kontrahenten als Störfaktoren. Zu Beginn des Coachings fühlte er sich ihnen ausgeliefert und unter Druck gesetzt. Wir arbeiteten drei oder vier Sitzungen an diesem Thema und am Ende beschrieb er seine neue Sichtweise auf die Situation mit einer typischen Szene aus «Asterix und Obelix». Er freue sich darauf, seine Störfaktoren ernst zu nehmen und sie «aus dem Weg zu räumen». So, wie Obelix die Römer aus dem Weg räume. Als Metapher wählte er das nebenstehende Bild. 

Bei ihm müsste man daher sagen: Die Macht der Bilder.

Nun aber zurück zu meinen möglichen Endgegnern. Ich habe noch gut ein halbes Jahr Zeit, um mögliche Endgegner auszuschalten, also beginne ich doch mal zu überlegen, welche das sein könnten und wie ich gegen sie vorgehe:


Verletzungen

Mein Endgegner Nummer 1 werden mögliche Verletzungen im Vorfeld sein. Nun heisst es: Risiko raus und «Grind» einschalten. Das hört der Freak in mir gar nicht gerne. Besonders hart war dies während den Skiferien. Besonders dann, wenn mich meine Teenies herausforderten. Aber ich konnte allen Versuchungen widerstehen. Ich habe diese Schneesaison alle Skirennen, die Halfpipe, den Funpark und sogar die Speedmessung ausgelassen. Ich werde noch einige tolle Sportevents bis im Sommer besuchen, unter anderem auch Faustballmeisterschaften. Bestreite ich alles mit 80% (anstatt 110% wie sonst), sollte ich theoretsich verletzungsfrei bleiben.


Dunkelheit

Meine Stirnlampe sollte von der Kraft her reichen. Ich muss nur noch testen, wie viele Stunden sie bei mittlerer Leuchtkraft durchhält. Kabel und Powerbank sind auf jeden Fall schon mal auf der Packliste. Und damit Heimweh, Einsamkeit, Selbstmitleid und Co. auch in der Nacht schweigend bleiben, werde ich, wenn möglich, Gesellschaft suchen. Wie gesellig die Menschen (inkl. mir) nach über 50 Kilometer Marsch noch sind, werde ich erst merken, wenn es so weit ist. Und solange ich nicht das Gegenteil spüre, bleibe ich beim Plan «gemeinsam gehen wir weiter».

Navigieren

Tagsüber wird das kein Problem sein, denn es werden genügend Mitverrückte auf der Strecke sein. Ich hoffe, dann das Navigieren weglassen und einfach den anderen hinterherlatschen zu können. Die offizielle Route werde ich aber sowieso vorher auf meine Wanderapp laden und im Hintergrund laufen lassen, so kann ich, falls nötig, mal einen Blick drauf werfen. Ich werde mich bemühen, nicht allein in die Nacht hineinzulaufen, damit ich mit der Navigation nicht auf mich allein gestellt bin.

Blasen

Blasenpflaster und Tapes sind im Rucksack und ein paar Kilogramm Vaseline sind bis dann auch aufgebraucht und somit gehen meine Füsse optimal vorgeschmiert und hornhautfrei an den Start. Und auch für die Vorbeugung gegen allerlei Tierleiden (Wolf, Bär,… - siehe Folge 6) habe ich eine Idee (das Vertexten dieser Methoden erspare ich euch).

Hitze

Dagegen hilft sicher, genügend zu trinken und eine sinnvolle Kopfbedeckung zu tragen (ev. Nackentuch an Strohhut nähen?). Da muss ich mir definitiv noch einige Gedanken dazu machen. Völlig behämmert möchte ich ja auch nicht aussehen, aber nützlich sollte es schon sein.

Regen

Ich hasse Wasser! Egal, von welcher Seite her es kommt. Der Regen anerkenne ich deshalb als einer meiner schwierigsten Gegner. Aber du wirst mir keinen Strich durch die Rechnung machen, du nasses Ding. Wasserdichte Laufschuhe im Sommer? No way! Da sind schweissbedingte Blasen vorprogrammiert. Also doch die leichten Sommer-Laufschuhe und Gamaschen, die über die Vorderfüsse gezogen werden können. Und oben? Regenjacke oder Pelerine über alles drüber? Da muss ich noch experimentieren bis August…

Langeweile

Jasskarten sind wohl fehl am Platz. Und der auditive Typ bin ich überhaupt nicht. Ich werde mir trotzdem ein paar Podcasts herunterladen und eine Marschplaylist mit einigen guten Songs zusammenstellen - sicher ist sicher. Ich werde mit Lea starten, auf den ersten Kilometern ist also für gute Unterhaltung gesorgt… Und danach hoffe ich, gute Menschen zu treffen und spannende Lebensgeschichten zu erfahren. Und wenn unser Tempo passt, dann sind wir vielleicht gaaaaanz lange gemeinsam unterwegs... 

Krisen

Die kommen bestimmt! Vielleicht werde ich ein paar nette Freunde bitten, telefonisch erreichbar zu sein, um im Krisenfall etwas Ablenkung zu erhalten. Was mir bestimmt immer hilft ist, mich auf den nächsten VP zu freuen. Wer weiss, vielleicht gibt es auch am Zürichsee so was ultrafeines wie eine Linsensuppe oder Milchbrötchen…

Und ein paar mantraähnliche Sätze werden mir bestimmt einfallen. Und wenn nicht, dann bestimmt das Esel-Lied von Andrew Bond. Neiiiiiiin, und schon ist es wieder im Schädel und geht nicht mehr raus...

Müdigkeit

Kaffee helfe, melden erfahrene 100er-Märschler. Ich mag keinen Kaffee und auch sonst nichts, was künstlich wachhält. Und sowieso habe ich eine Abneigung gegen sämtliche Substanzen, welche mich in irgendeiner Weise manipulieren könnten, das beginnt schon bei Red Bull. Also hilft nur eins: Viel vorschlafen und eine Nacht durchmachen. Und NICHT der Versuchung nachgeben und irgendwo ein kurzes Nickerchen machen. Nein, nein, nein, das kommt nicht gut und schreibe ich mir dick hinter die Ohren. (Hoffentlich erinnere ich mich dann auch daran…)

Hunger

Bis zum 100er werde ich total 5 offizielle Märsche hinter mir haben und das sollte reichen, um genügend Erfahrungen zu sammeln, wie mein optimales Buffet bestückt werden soll. Die grösseren Verpflegungen werde ich an den VPs einnehmen und die kleineren Snacks selbst mittragen. Hinzu kommen Kaltteebeutel, Elektrolytenpulver und ein paar Anti-Krisenprügeli (erhalte ich die gesponsort, wenn ich mein Lieblingsgestell hier veröffentliche?)

Schmerzen

Wenn eines sicher passieren wird, dann sind das die auftretenden Schmerzen. Ich kann euch zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht sagen, wo diese sich bemerkbar machen werden. Die Schmerzkreativität** meines Körpers hat mich ja schon bei meinem ersten 50er überrascht. Vielleicht hätte ich im Geburtsvorbereitungskurs besser aufpassen sollen, dann wüsste ich, wie man Schmerzen weg atmet (nicht lächerlich gemeint, war nur gerade so ein Gedanke). Bei den Mammutmärschen soll bei Kilometer 80 der Spruch stehen: «Irgendwann tut es nicht mehr mehr weh.» Ich muss also mindestens die 80 schaffen, dann wird es nicht mehr schlimmer. Das will ich wissen! Also los geht’s zur 80. Und dann noch ein Mammutherden-Spruch: «Ein Mammutmarsch ist zu 90% mental. Der Rest ist Kopfsache.» Also genau mein Ding! Wie es wirklich wird, bleibt bis August noch ein Geheimnis. Ich bin gespannt…

Und ganz ehrlich: Ich freue mich auf dieses Mental-Game gegen mich selbst.

Nun heisst es aber: Fokus weg von Zürich und hin nach München. In ein paar Tagen werde ich beim Mammutmarsch in München*** am Start stehen und die 55km-Strecke angreifen.

* Ich liebe diesen Schweizer Ausdruck! Er bedeutet so viel wie «Luft» oder «Kapazität».
** Cooles Wort, nicht? Das sollte unbedingt im Duden aufgenommen werden!
*** Erneut eine fremde Stadt = genügend Ovo-Produkte werden eingepackt!



Folge 11: Mammutmarsch München, 55km. Da sind sie: Meine Grenzen!
März 2025


Gespannt lese ich seit Tagen die Wettervoraussichten fürs München-Weekend. Diese prognostizieren je nach App «Schneeregen», «Windböen» oder «stark bewölkt mit Regen». Bei der Temperatur sind sie sich einiger: 0-3°C. Das kann ja heiter werden… Ein Anti-Regen-Mantra habe ich mir übrigens auch herausgesucht: Regen ist flüssiger Sonnenschein.


Voll bepackt (inkl. Skijacke!) und mit ebenso viel Respekt vor dem Wetter mache ich mich am Freitagnachmittag mit dem Zug auf nach München. In der Bayrischen Hauptstadt angekommen streiten sich gerade zwei Stimmen in mir. Zusammenfassung des Kampfes: «Ich klein, Stadt gross, Wetter kalt und nass, S-Bahn zum Hotel: Ausfall. ICH WILL NACH HAUSE!» gegen «Neue Herausforderung, neue Strecke, neuer Rekord und nächste Kilometerstempel in Sicht, Vorfreude auf neue Begegnungen und kulinarische Highlights an den Verpflegungsposten: AUF GEHT’S!». Wie ich die negative Energie nutzen und die positiven Gedanken verstärken kann, weiss ich als Mental Coach bestens, deshalb geht meine Reise dann auch auf (indirektem) Weg zum Starnberger See in die Unterkunft und nicht zurück nach Zürich. Die erste (klitzekleine) Hürde ist also geschafft. Die Zeit bis zur Ankunft meiner Streckengefährtin Lea nutze ich damit, meinen Rucksack feinsäuberlich zu packen, die Strecke auf der Navigationsapp zu aktualisieren und mir die Kilometerangaben der Verpflegungspunkte einzuprägen. Und dann heisst es: Ab ins Bett.

Nach einer kurzen Nacht klingelt um 5 Uhr der Wecker. Als Anti-Morgenmensch drehe ich mich noch einmal um, ziehe mir die Decke über den Kopf und steige erst beim zweiten Weckruf aus dem Bett. Dann geht alles ruckzuck: Alle vorhandenen Kleiderschichten und der Wanderrucksack werden montiert und nach einer kurzen Strecke zu Fuss fährt uns ein Mammut-Shuttlebus direkt zum Startbereich. Starterbändchen abholen, obligatorisches Starterfoto knipsen, wasserdichte Gamaschen und Pelerine überziehen und ab in den Startkanal in unsere Startergruppe. Pünktlich um 7.20h wird 3x «MAMMUT» (Speaker schreit) – «MARSCH» (200 verrückte Mammuts schreien) verkündet und dann setzten wir die ersten Schritte auf die 55km lange Marschstrecke.
Aktueller Stand: Sozialer Akku: 100%, Mentaler Akku: 95% (Regenwetter), Körperlicher Akku: 100%, Boombox: 100%, Blasenpflaster: 1

Bis zur ersten Verpflegungsstation sind es nur 7.7km. Es regnet bei 2°C Kälte und mein zurechtgelegtes Mantra zeigt keinerlei Wirkung – also weg damit. Die wunderschöne Strecke am Starnberger See entlang ist eine akzeptable Entschädigung für das aktuelle Wetter und die Laune ist trotz Sauwetter gut. Das Bild, welches sich zeigt, ist irgendwie witzig: hunderte von Mammuts wandern in farbigen Umhängen dem Ufer entlang – Schulreise im Grossformat.
Wind und Regen geschuldet lädt der erste Verpflegungsposten nicht zum Verweilen ein und so bleiben wir hier auch nicht länger als nötig. Wir spüren, wie schnell sich der Körper abkühlt - schon nach einigen Minuten Anstehen beim ToiToi und für die Zwischenverpflegung. Also schnell wieder los auf die Route.
Aktueller Akkustand: Alle Bereiche top.

Bis zum nächsten VP sind es 20 Kilometer. Der Regen wechselt sich mit Schneeregen ab, auch Windböen setzen immer wieder ein (damit alle Wetterapps Recht behalten, kommen wir in den Genuss der Prognosen aller Apps - teils sogar gleichzeitig). Der Weg verläuft teilweise durch Matsch. Die äusseren Begebenheiten sind hart. Auch wenn Gamaschen, Skijacke und Pelerine bekloppt aussehen: Dank diesen Zusatztools bin ich nach wie vor trocken und habe warm.  Meiner inneren mentalen Verfassung ist es wohl etwas zu langweilig und so denkt sie sich die ersten Krisenattacken aus. Diese sind mit Hilfsmittel wie Musik (noch reicht die Hochzeitsplaylist) und Ovoschoggitäfeli relativ flott zu bändigen und dauern somit jeweils kaum länger als ein bis zwei Kilometer. Um mich zu schlagen müssen sie schon kräftiger angreifen. Ein bisschen mentalen Akku haben sie verbraucht, aber noch ist der Akkustand gut. Auch die körperliche Verfassung ist nach wie vor gut, nur die vom letzten Meisterschaftstag noch etwas angeschlagene Wade zwickt etwas.

Nach fünf Stunden Dauerregen hört es kurz vor VP2 endlich auf zu regnen! Diese positive Änderung nutze ich, um die Socken zu wechseln und die eine drückende Stelle mit Blasenpflaster abzudecken. Pipipause, Motivationsbanane schnappen (Danke Volunteers, ihr seid so unglaublich wertvoll!!!) und noch etwas Gemüsebrühe auf den Weg und schwupp, schon sind wir wieder unterwegs. Die Füsse fühlen sich nicht mehr ganz so wohl in den Schuhen, aber noch immer ist der Allgemeinzustand gut.
Aktueller Stand: Sozialer Akku: 90%, Mentaler Akku: 85%, Körperlicher Akku: 80%, Boombox: 90%, Blasenpflaster: 2

Nun kommen meine rationalen, mathematischen Fähigkeiten ins Spiel: so gut wie die Hälfte der Strecke ist geschafft und alle meine Akkus sind noch weit über 50%. Fazit: Das reicht bis ins Ziel, sogar dann, wenn die zweite Streckenhälfte doppelt so viel verbrauchen würde wie bis hierher.

Mit etwas schweren Füssen, aber guten Mutes (Zieleinmarsch ist ja schliesslich mathematisch bewiesen) geht es auf den Streckenabschnitt Nummer drei.
Auch dieser ist wunderschön gewählt. Die Landschaft ist definitiv ein grosser Motivator (Danke an die Organisatoren!). Neben Lea (die gerne schneller unterwegs wäre und mich daher nicht immer nur positiv beeinflusst) ist auch die Musik ein enorm wichtiger Faktor meines heutigen Marsches. Nachdem wir verschiedene Playlists ausprobiert haben, sind wir uns einig: Die Musik der Stubete Gäng ist der einzig wahre Game-Changer unserer heutigen Reise zwischen Start und Ziel. Das finden übrigens auch ganz viele andere Mammuts und so haben wir immer wieder ein Grüppchen Mithörende bei uns. Und alle, die sich gestört haben daran: Sorry!

Die 10 Kilometer bis zum nächsten Highlight gehen dann mit abwechselnden Krisen- und Nicht-Krisen-Phasen auch recht flott vorbei und so kommen wir nach einem kurzen Anstieg beim Kloster Andechs an – 37km sind geschafft. Zwar ist dieser schöne Ort für gutes Bier bekannt, aber weder das Wetter noch der Grund, warum wir hier sind, laden für ein Mass Bier ein. Dem Wind geschuldet ist es eisig kalt hier oben und so verlassen wir auch diesen VP so schnell als möglich wieder.
Aktueller Stand: Sozialer Akku: 85%, Mentaler Akku: 75%, Körperlicher Akku: 50%, Boombox: 75%, Blasenpflaster: 3

Es geht also weiter in Richtung Ziel. Und plötzlich holt mich der Moment ein, von dem ich schon so oft gehört habe und kaum glauben konnte, dass es ihn gibt. Der Hammer-Mann ist da! Irgendwo zwischen Kilometer 40 und 45 bleiben meine Erinnerung stehen – ich bin also im Elend angekommen. Ich versuche euch zu beschreiben, wie es mir geht: Meine Füsse schmerzen schrecklich. Es sind nicht die Reibungspunkte, auch keine Blasen. Es fühlt sich gerade so an, als ob alle Knochen in meinen Füssen gebrochen sind und ich weiss kaum, wie ich in diesem Zustand auf die Füsse stehen soll. Der körperliche Akku schwindet vom einen auf den anderen Moment von 50 auf 5 Prozent. Nicht linear, sondern in einem unaufhaltbaren Fall. Da mein mentaler Akku etwas weniger schnell sinkt, bin ich gerade noch fähig, mir einen Handlungsauftrag zu erteilen: «Einen Fuss vor den anderen». Und dann kommt noch eine coole Nachricht einer Freundin aufs Handy (siehe Bild): Das zaubert mir ein Lächeln auf meine Lippen und treibt mich noch einmal an. 

Von den nächsten 10 Kilometern weiss ich praktisch nichts mehr. Ich wechsle husch die Zeitform, da ich die nächsten Sätze nur mit Hilfe von Leas Erinnerungen schaffe:
Es habe noch einen VP gegeben (ach ja, ich kann mich an einen Hotdog im Toasbrot erinnern, aber das ist alles). Und ich habe mich irgendwo noch hingesetzt und ein weiteres Blasenpflaster montiert. Ausserdem habe ich ein paar lebensändernde Aussagen gemacht:

1. Ich werde nie wieder an einem Marsch über 30km teilnehmen.
2. Mein altes Leben endet 2025. In meinem neuen Leben (Start 2026) werde ich nur noch Wellness-Weekends buchen – mein Mann wird sich freuen!
3. Den gebuchten Marsch in Zürich (100km) werde ich in eine Volunteerschicht umtauschen.

Aktueller Stand: Sozialer Akku: 30%, Mentaler Akku: 30%, Körperlicher Akku: -10%, Boombox: 50%, Blasenpflaster: 4

Meine Erinnerungen setzten ungefähr drei Kilometer vor Schluss wieder ein. Es sind drei unglaublich lange Kilometer dem Starnberger See entlang. Wir marschieren mit Stirnlampe im Dunkeln. Ich feiere gerade meine reflektierenden Schuhbändel und Dank den Liedern der Stubete Gäng (die Playlist «Alle Lieder der Stubete Gäng» läuft zum dritten oder vierten Mal durch) tummelt sich eine kleine Gruppe zielstrebiger Mammuts um uns. Ich glaube nicht, dass die Deutschen den Text wirklich verstehen, aber irgendwie brummt jeder etwas mit und lässt sich ziehen. Noch zwei Kurven und dazwischen ein kurzer Aufstieg. 

Es läuft das Lied «zwei linggi Bei» und ich singe in voller Lautstärke mit

«Ich han zwei müedi Bei – ei ei ei ei – du häsch zwei müedi Bei – ei ei ei ei

(Originaltext: Ich han zwei linggi Bei - ei ei ei ei - du häsch zwei linggi Bei - ei ei ei ei)
doch hüt gömmer go laufe, und mir laufed mitenand is Zie-i-i-i-iel.

(Originaltext: Doch hüt gömmer go tanze, alles anderi isch einerleieiei)
Ich han zwei müedi Bei – ei ei ei ei – du häsch zwei müedi Bei – ei ei ei ei

(Originaltext: Ich han zwei linggi Bei - ei ei ei ei - du häsch zwei linggi Bei - ei ei ei ei)
und wämmer nüm möged laufe, träg i di uf em Buggel is Ziel.

(Originaltext: Und wämmer nüm möged tanze, träg i di uf em Buggel heieieieiei.)


Lea und ich hatten eigentlich vor, ins Ziel zu joggen und auf einmal bin ich auch wieder in der Lage dazu. Doch etwas hält mich 20 Meter vor dem Ziel auf: Ein liebevoll bemaltes Stoffstück mit «Hopp Schwiiz». Ich muss stehen bleiben und das Plakat fotografieren. Und jetzt lohnt es sich ja auch nicht mehr zum Sprint anzusetzen. Ich sehe den Zielbogen und die gelben Volunteers mit ihren gelben Pompons in der Hand und höre den Applaus und die Pfeifen. Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten und freue mich unglaublich, das Ziel erreicht zu haben! 


So fühlt es sich also an! 

Das ist das Gefühl, das ich mir schon so lange gewünscht habe. 

Das Gefühl, das ich nur aus Schilderungen kenne. 

Ich habe so gelitten und es trotzdem geschafft und ich kann zum ersten Mal in meinem Leben mit Überzeugung sagen:

ICH BIN STOLZ AUF MICH und ES FÜHLT SICH GROSSARTIG AN!





Folge 12: 1 Tag danach
März 2025
Meine Aussagen 1-3 ziehe ich zurück.



Folge 13: Eure Fragen

Gerne (gerne? naja, also einige Fragen bringen mich schon ganz übel ins Grübeln) beantworte ich an dieser Stelle ein paar eurer Fragen.


Was machst du nun mit diesem guten Gefühl des Zieleilaufes? Es vergeht ja leider wieder. Es wäre super, wenn man es konservieren könnte.
Gefühlszustände können tatsächlich gespeichert werden. Meist geschieht dies unbewusst und erscheint dann auch recht überraschend wieder. Zum Beispiel erinnert dich ein Geruch an deine letzten Ferien oder eine Musik versetzt dich in die Situation deines ersten Dates. Dieser Konditionierungsvorgang kann auch bewusst genutzt werden. Die mentale Technik dazu nennt sich «ankern» und ist ein Tool, das im Coaching sehr häufig genutzt wird. Dabei wird eine Verknüpfung von einem Reiz (in meinem Fall das Berühren der Medaille) mit einer Reaktion (gewolltes Gefühl: Stolz und Zufriedenheit) verknüpft, damit der gewünschte Zustand jederzeit abrufbar ist. Dieser Prozess wird auch konditionierte Reaktion genannt. Mit ein bisschen Übung gelingt dies recht schnell.

In einer vorherigen Folge hast du geschrieben, dass du Wasser nicht ausstehen kannst. In München hat es geregnet und das nicht wenig. Du hast gar nicht geschrieben, wie fest dich das gestresst hat. War es sehr schlimm für dich?
Du bist sehr aufmerksam. Stimmt, das habe ich gar nicht beschrieben. Und es hat mich tatsächlich gar nicht so fest gestört, wie ich angenommen hatte. Im Gegenteil: Dank meiner guten Anti-Regen-Ausrüstung (allein am Kopf hatte ich vier Schichten) blieb ich von Anfang bis Ende trocken und hatte auch immer warm genug (ausgenommen bei den Stopps an den Verpflegungsstationen).  «Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung» - Diesen Spruch kennen wir alle, sitzen dann aber doch lieber auf der warmen Couch in der trockenen Stube…, oder? In München konnte ich nicht anders und musste mich dem Wetter stellen und ich bin froh darüber. Denn die warme Dusche danach fühlt sich einfach unbeschreiblich an… (Ja, sogar das Wasser aus der Dusche habe ich genossen! Das erste Mal in meinem Leben 😊) und somit verliert der Faktor «Regen» seine Position auf der Liste der möglichen Endgegnern und rutscht auf die Liste «unangenehme Gegner» ab.

Was hat dich daran gehindert abzubrechen?
Diese Frage musste ich tatsächlich einige Male lesen, bis mir eine Antwort einfiel. Zuerst habe ich mich gefragt: «Stimmt, warum habe ich nicht aufgehört? Oder nicht mal daran gedacht?» Erst während ich die Frage mit meinem Mann diskutierte, kam mir die Erkenntnis und die Antwort ist sehr simpel:
Die Option «aufgeben» oder «abbrechen» hatte ich gar nicht zur Verfügung. Weder in der Vorbereitung noch während dem Marsch hatte ich diese Option bereit. Und was theoretisch (also im Kopf) nicht vorhanden ist, kann auch nicht genutzt werden.

Es ist genau so simpel wie folgender Sachverhalt: «Wenn du kein Geld hast, kannst du nichts kaufen.»

Aus zuverlässiger Quelle :-) habe ich gehört, dass du während den Märschen deinen Liebsten Audios schickst. Ich würde zu gerne da mal reinhören... Kannst du mal eines posten?
Eigentlich habe ich gehofft, dass diese Frage nicht kommt… Meine Audios sind ultrapeinlich. Natürlich sind sie dies für mich nicht, während ich sie aufnehme. Aber wenn ich sie mir Tage danach, entspannt auf dem Sofa liegend, anhöre, dann schüttle ich nur den Kopf und (zugegebenermassen) amüsiere ich mich auch darüber.
Ich entschuldige mich für die Wortwahl, die unüberlegten Sätze und die Wirrheit meiner Nachrichten - dafür sind sie 100% real und authentisch.
Hier ein kleiner Einblick bzw. Reinhörer:


Kilometer 14 - da ging es mir noch gut

München_14.opus (132.66KB)
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Kilometer 27 - alles gut

München_27.opus (151.26KB)
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Kilometer 39 - Die Krise beginnt

München_39.opus (59.62KB)
München_39.opus (59.62KB)




Folge 14: Dem Hammermann auf der Spur

März 2025
Erfolg ist etwas, das erfolgt (ist also eine logische Konsequenz unserer Handlungen) und hat absolut nichts mit Wettkampfglück zu tun. Umgekehrt bin ich genauso davon überzeugt, dass nicht befriedigende Leistungen einen Grund haben, wir also die Verantwortung dafür tragen. Vielleicht tönt das für den einen oder anderen im ersten Moment beängstigend (das erlebe ich in den Coachings oft). Wenn man sich aber mit dieser Grundhaltung beschäftigt und erkennt, dass man dadurch Veränderungen ermöglicht und die Macht über seine Handlungen erhält (und dadurch auch über seine Leistung und den Erfolg), wird man von der «Spiefigur» zum «Spielgestalter».
Wer sich mit diesem Thema intensiver beschäftigen will, dem empfehle ich das Buch «Spielregeln für Gewinner – Mit 25 einfachen Gesetzen zur persönlichen Höchstleistung» von Steffen Kirchner (dazu habe ich vor einiger Zeit eine Buchrezession geschrieben, welche ihr hier findet: Link). 

Zurück zum Thema: In München ging es mir auf den letzten 13 Kilometern richtig mies und das muss einen Grund haben. Meine Schnellanalyse kurz nach dem Marsch: Der Hammermann hat zugeschlagen! Dieses Phänomen kommt aus dem Ausdauersport und beschreibt den Zustand des plötzlichen Leistungseinbruches infolge Kohlenhydratmangels, also einem zu tiefen Glucosespiegel, welcher unter anderem ein Schweregefühl in den Beinen und Gelenkschmerzen verursacht. Dieser Begriff kam mir gerade recht, denn so hatte ich einen Grund für meinen Zustand.


Nun, eine Woche nach dem Marsch muss ich ehrlich zugeben: Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es wirklich der Hammermann war, der mich besucht hat. (Und so nebenbei: In der Zwischenzeit habe ich den Satz umgekehrt und wahr gemacht, damit ich sagen kann: «ICH habe den Hammermann besucht» – siehe Bild. Von diesen Metallkunstwerken gibt es übrigens nur ein paar auf der ganzen Welt, drei in Europa und einer davon steht tatsächlich nur eine Zugstunde entfernt von mir, in Basel).



Und auch falls es in München doch der Hammermann (also die Umstellung des Körpers vom Kohlenhydratspeicher zur Fettreserve mit seinen Nebenwirkungen) oder einer seiner Brüder war, dann gibt es Möglichkeiten, ihm zu entkommen. Hammermann hin oder her, notiere ich alle Faktoren, welche für den Schmerz und die Ermüdung in den Füssen verantwortlich gewesen sein könnten und überlege mir auch gleich, wie ich diese Faktoren optimieren oder eliminieren kann. Und jaaaaa, auch die 100% selbstverschuldeten und banalen Punkte wie «zu wenig getrunken» und «keine sitzenden Pausen» kommen auf die Liste. Und sollte der Hammermann (nun meine ich den psychischen, nicht den physischen) doch eine Rolle gespielt haben, dann habe ich ihm nun mittels Perspektivenwechsel die Macht genommen (siehe Foto). Selbstverständlich ist dieses mentale Tool viel umfassender und aufwendiger in der Ausführung und benötigt eine strukturierte Anleitung. Das Foto dient sozusagen als Zusammenfassung dieser effektiven Methode.  


Die Konsequenzen meiner analytischen Überlegungen sind: Neue Einlagen (mehr Dämpfung, dafür weniger Stützfunktion - ausprobieren schadet nichts. Der Verkäufer meinte zu meinen bisherigen Einlagen voller Mitleid: «Mit diesen Betoneinlagen sind Sie 55km marschiert?»), alle 15km Elektrolytenpulver (hat sich in Nürnberg bewährt), mehr trinken (auch wenn das Getränk in der Flasche halb zugefroren ist), zur Not noch einen Powergel einpacken (Kohlenhydrate im Astronautenlook) und die Waden-/Fusskräftigungsübungen der holländischen Physioikone ergänzend zu den Hüftübungen einbauen (danke Sandra, ich hatte in München üüüüberhaupt keine Schmerzen in der Hüfte!). Einen Begriff möchte ich eigentlich gar nicht notieren, wäre aber ehrlicherweise schon zu erwähnen: Mehr Training! Beziehungsweise: Weniger Trainingsunterbrüche. Und damit ich auch keine Woche auslasse, dürft ihr euch gerne bei mir melden, wenn ihr mal mitkommen möchtet – es muss ja nicht gerade einen 50er sein – die neuen Einlagen kann ich auch um den Greifensee testen oder bei euch im Garten ums Biotop…


Folge 15: Es braucht Experten für die Analyse - hier sind sie:
April 2025

Nicht, dass ihr meint, dass ich es extrem nötig finde, alles zu analysieren. Ich weiss ja selbst, dass es sich nur um ein Hobby und «nur» ums Marschieren handelt und nicht um eine Olympiaqualifikation. Ich finde es einfach unheimlich spannend mehr darüber zu erfahren, wie unser Körper funktioniert, zu was er fähig ist und welche Voraussetzungen vorhanden sein müssen. Deshalb gehe ich dem «München-Phänomen» noch weiter nach. Alle unbeantworteten Fragen stelle ich Expertinnen und Experten verschiedener Fachbereiche und erhalte viele eindrückliche Antworten, welche ich euch nicht vorenthalten möchte. Die Antworten habe ich in den meisten Fällen mündlich erhalten und nicht aufgezeichnet. Ich versuche, diese so fachgerecht wie möglich wiederzugeben.

Mein Mann hat die ganze Diskussion ins Rollen gebracht. Er ist der Meinung, dass ich in München gar keine realen Schmerzen gehabt habe, mir diese aber vom Gehirn so echt vorgegaukelt wurden, um einen Abbruch zu erzwingen. Anders kann er sich nicht erklären, dass meine Schmerzen in den Füssen am nächsten Tag verschwunden waren.

Ist es theoretisch möglich, dass ich körperlich nichts hatte und der ganze Schmerz psychisch vorgegaukelt wurde?
Diese Frage darf ich einer Schmerz- und Psychotherapeutin stellen. Das Wort «vorgegaukelt» verneint sie sofort und erklärt mir, dass Schmerzen immer real und spürbar seien, diese jedoch somatisch (körperlich) oder psychosomatisch (auf psychisch-körperlichen Wechselwirkungen beruhend) ausgelöst werden können. In der Symptomatik seien kaum Unterschiede festzustellen und deshalb seien die Schmerzen in beiden Fällen gleich belastend. Was sie ebenfalls erwähnt, ist der interessante und völlig einleuchtende Punkt, dass Schmerzen Sinn machen. Sie seien eine Botschaft in Form eines akuten Signals.
Ich erzähle ihr von der Theorie meines Mannes und sie meint dazu, dass sie vermute, dass das Gegenteil eingetroffen sei: Mein Kopf habe so bedingungslos das Ziel verfolgt und deshalb das Warnsignal Schmerz ignoriert. Dadurch entstehe eine Art Trauma (in meinem Fall natürlich in einem sehr minimalen Ausmass). Und so könne sie sich auch mein Blackout erklären: Einer der möglichen Schutzmechanismen unseres Kopfes, um mit einem Trauma umzugehen, sei das Blackout.
In meinen Worten zusammengefasst würde das bedeuten, dass mein Kopf sich über den Körper (Schmerz) hinweggesetzt, dadurch ein Trauma ausgelöst und dies wiederum mit einem Blackout «gelöscht» hat.

Nach diesem interessanten Gespräch will ich den somatischen Weg weiterverfolgen - er macht für mich Sinn. Was in meinem Körper hat also den Ausschlag gegeben für die Schmerzen? Waren die Schmerzen im Fuss vom Fuss ausgelöste Schmerzen (war es wirklich so banal, wie dieser Satz klingt?) oder war es doch der Hammermann? (Ja, ich gebe zu, dass mich dieser imposante Hüne noch nicht ganz los lässt)
Ich muss es wissen! Wissen ist Macht! UND ICH WILL DIE MACHT ÜBER MEINEN KÖRPER ZURÜCKEROBERN UND GESTÄRKT IN DEN NÄCHSTEN KAMPF ZIEHEN. Äh sorry, jetzt drifte ich etwas ab. Ich meine natürlich: Ich möchte wissen, woher die Schmerzen kamen, die Ursache beheben und so am nächsten Marsch bequemer herumstiefeln können.

So oder so: Die Nachforschungen ziehen mich in den Bann und meine nächste Frage darf ich einer diplomierten Podologin stellen.
Was sind mögliche Ursachen von Mittelfuss-Schmerzen beim langen Marschieren?
Sie betrachtet zuerst meine Schuhe – diese bestehen den Eignungstest. Uff, Glück gehabt, so bleibt mir eine erneute Investition in neue Laufschuhe erspart.
Und dann inspiziert sie das Herzstück ihrer marschsüchtigen, wissensbegierigen Kundin: Die Füsse. Ihre fachkundigen Augen diagnostizieren auf den ersten Blick einen Spreiz-Senk-Fuss – was immer das heissen mag. Zudem bestätigt sie, dass ein derartiger Schmerz durch eine Überbelastung möglich sei. Somit sind zwei mögliche Ursachen definiert (Fehlstellung, Überbelastung) und meine Frage beantwortet. Und danach geniesse ich zum ersten (und nicht letzten) Mal in meinem Leben eine Behandlung bei einer Podologin.

In welche Richtung mich meine nächsten Ermittlungen führen, ist ja sicherlich klar: Der Spreiz-Senk-Fuss muss erkundet werden. Google hat dazu folgende Erklärung bereit:
«Am häufigsten äußert sich ein Spreizfuß durch belastungsabhängige Schmerzen. Sie treten besonders beim Gehen und Stehen auf. In Ruhe lassen sie wieder nach.» (Google, April 2025)
Ist jetzt sicherlich nicht die differenzierteste Antwort, passt aber zu meiner Situation. Genügt mir aber noch nicht. Und so führt mich meine Fahndung zu einem Orthopädietechniker. Im Gepäck trage ich meine beiden Paar Laufschuhe, die Einlagen und die ultimative Frage:

Kann es sein, dass der Tatverdächtige für die elenden Fussschmerzen mein «Spreiz-Senk-Fuss» ist?
Die Antwort des Orthopädietechnikers ist so banal, dass ich mich danach fast etwas schäme, die Frage überhaupt gestellt zu haben: «Ja klar. Sie haben die Ursache erkannt und den Schmerz erlebt, offensichtlicher geht es nicht.» Ich versuche mich mit einer Nachfrage zu retten: «Vor dem 55er in München habe ich schon einige Trainingsmärsche absolviert und einen 30er und einen 50er ohne diese Monsterschmerzen geschafft. Die Fehlstellung hatte ich da bestimmt schon. Warum hat der Schmerz erst in München zugeschlagen?» Der Fachmann erklärt mir, dass die Schmerzen bei einer Fussfehlstellung dann besonders stark werden, wenn dadurch eine Entzündung ausgelöst wird. Es könne sein, dass ich auf den paar hundert Kilometern zuvor die Entzündung entfacht und sie dann mit weiteren Kilometern in München so richtig zum Glühen gebracht habe.

Kling einleuchtend. Als optimale Lösung entpuppen sich massgeschneiderte Einlagen für knapp Fr. 600.--. Ich entscheide mich vorerst für das 0815-Produkt für Fr. 21.— Wer weiss, vielleicht habe ich die einzige 0815-Stelle an mir gefunden und damit Fr. 579.— gespart.

Da bleibt nur noch das Rätsel um den mysteriösen Hammermann offen. Ich möchte von jemandem, der diesen Effekt schon einmal erlebt hat, folgendes wissen:
Wie äusserte sich der Hammermann-Effekt bei dir?
Dazu schildert mir ein ehemaliger Triathlon-Athlet seine Erfahrungen. Er beschreibt den Zustand als grosse, unheimliche, undurchdringbare Wand, die jedes letzte Energieprozent schluckt. Das Ende seiner Begegnung mit dem mächtigen Riesen: Er sei von Sanis «zusammengelesen» und mit dem Krankenauto abtransportiert worden – da habe auch seine mentale Stärke nichts mehr dagegen machen können.

Seine Schilderungen decken sich kaum mit meinen Erfahrungen und so rückt die Wahrscheinlichkeit, dass der «grosse Unbekannte» der Grund meiner Krise war, weiter in den Hintergrund. Um diesen Tatbestand endgültig ins Jenseits zu befördern, benötige ich weiteres Expertenwissen. Meine letzte Ermittlungsunterstützerin ist eine Ernährungsdiagnostikerin. Sie stellt sich bereit, die folgende Frage per Mail zu beatworten:
Ist die Belastung bei einem Marathonmarsch (ich renne nicht!) genügend gross, dass es theoretisch zu einem derartigen Kohlenhydratmangel kommt, dass der Glucosespiegel zu niedrig wird und der "Hammermann" einsetzt?

Seit rund zwei Wochen warte ich auf ihre Antwort und nutze diese Tage, um die neuen Einlagen zu testen. Und sie scheinen ihre Wirkung zu zeigen.
Mittlerweilen glaube ich, die ausstehenden Antworten nicht mehr zu benötigen. Die Ermittlungen sind abgeschlossen, der Spreiz-Senk-Fuss als Täter definiert und zum Absitzen in einlagenversehenen Schuhen verurteilt.
Hiermit beende ich die verkopfte (und für mich extrem spannende) Krisenanalysearbeit und widme mich wieder dem Herzstück meines Hobbys: dem Marschieren – Grind abstelle und ein Fuess vor de ander setze… Meter für Meter – Kilometer für Kilometer


Folge 16: Was für ein geiles Geburi-Geschenk - meine Freunde laufen mit!

April 2025

Da hat sich mein Mann ja wieder mal selbst übertroffen! Ich dachte eigentlich, meine Marscherei geht ihm allmählich auf den Kecks. Tut es ja vielleicht auch, aber anstatt sich zu nerven, entwickelt er eine grandiose Idee. Zusammen mit einem guten Freund erschafft er eine Homepage (mit eigenem Logo für mich!), auf welcher man einen Support für mein 100km-Projekt anmelden kann: Man kann sich melden, um mich an einzelnen Posten zu erwarten, um mich zu motivieren oder sogar stückweise mitmarschieren. Drei Tage nach meinem Geburtstag findet meine Krimibrunch-Party statt und da verplappert sich doch tatsächlich schon der eine oder andere (also vor allem DIE eine 😊), dass er bzw. sie mich supporten wird.
Ob da auch noch Lieblingsessen-, Massage- und Physiotherapieposten eingebaut sind? Ich werde es sehen. Sämtliche Supports sind geheim (ausser, man verplappert sich…) und sollen mich auf der 100km Strecke um den Zürichsee überraschen und zu weiteren Kilometern treiben. Was für eine ultracoole Idee!!!

Ein grosses Dankeschön an meinen Mann und an meine Freunde! Ich habe einfach die besten Menschen um mich herum! Ich habe keine Million, kein schnelles Auto und auch kein eigenes Haus. Aber ich habe Freunde, die mich mögen, wie ich bin und die mir Zeit schenken und mich damit glücklich machen. Was will ich mehr? DANKE!

Nun bin ich natürlich unglaublich gespannt, wen ich auf der Strecke alles antreffen werde. Und, ob sie mich überhaupt entdecken (vielleicht muss ich noch eine Giraffe oder so auf dem Kopf tragen).  

Folge 17: 1. MM-Day
April 2025

Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich die besten Freunde habe? Sie unterstützen mich sogar beim Training. Aber alles von vorne:
Mein Trainingsplan bis zum 100er im August sieht vor, jedes Weekend einen Trainingsmarsch zu absolvieren, davon soll mindestens einer pro Monat 40 oder mehr Kilometer betragen. Die gebuchten Mammutmärsche (München im März, Nürnberg im Mai und Mannheim im Juni) erfüllen dieses Ziel bei Weitem und so müssen nur noch zwei längere Märsche für April und Juli her. Die Schnittmenge aus «Mammutmarsch-Datenplan», «Termine in meiner Agenda» und «Budget für Hobby» ergibt leider keinen Treffer und so ist Eigeninitiative gefragt.


Ich stelle eine 40km-Route inkl. Verpflegungsposten (VPs) zusammen und schicke die Idee ein paar Freunden. Wer weiss, vielleicht sind ja dem einen oder anderen 55'000 Schritte ebenfalls sympathischer als ein entspannter Ausschlaf-Sonntag. Mein Mann drückt sich ein weiteres Mal vor dem Mitmarschieren, stellt sich aber heldenhaft als VP-Volunteer zur Verfügung (und überlegt sich auch gleich ein paar coole Sprüche für die Beschriftung der Motivationsbananen).




Ich rechne mit maximal einer Hand voll Personen, die sich mir anschliessen. Schlussendlich sind wir 13 Märschlerinnen und Märschler, welche die (ganze oder Teile der) MM-Day-Strecke von Jona nach Wallisellen marschieren. Wir erleben einen tollen Tag mit perfektem Wanderwetter, guten Gesprächen, hammerfeinen VPs, einigen Seufzern und auch ein paar Blasen. Und auch typische Langmarschphänomene sind dabei: Essen, das noch nie besser geschmeckt hat (hier geht es nicht um ein Rindsfilet, sondern um eine Essiggurke und eine Banane), Personen im «überegheite» Zustand (gibt es dafür überhaupt ein hochdeutsches Wort oder passiert das nur uns Schweizern?) und auch «warum mache ich das?» ist zu hören.

Jeder hat sich für diesen speziellen MM-Day ein persönliches Ziel gesetzt und egal ob Teilstrecken oder ganze Strecke: Alle erreichen (oder übertreffen!) es – GRATULATION EUCH ALLEN!
Nicht nur GRATULATION, sondern auch DANKE! Egal, wie «gspunne» meine Ideen auch sind, ich habe immer Freunde um mich herum, die mitmachen! Ein schönes Gefühl!


Ein weiteres Dankeschön geht an den VP-Volunteer für die unglaublich leckeren VPs (die dadurch erzeugten Verspätungen auf den Folgerouten nahmen wir gerne in Kauf). Danke auch an meine Tochter für die selbstgemachten Energyballs und Hafer-Power-Cookies).



Und eines ist sicher: In den nächsten Monaten wird man den einen oder anderen der heutigen Truppe auf einem offiziellen Marsch sehen… (kriege ich eigentlich Provision bei Mammutmarsch.de?)

Wenn du beim Lesen dieses Blogbeitrages öfters geschmunzelt hast, du genau weisst, von was ich schreibe und dich vielleicht sogar auf einem Foto entdeckt hast, dann gehörst du höchstwahrscheinlich zur Truppe, die am 1. MM-Day dabei war. Und falls du zu den Bloglesenden gehörst, die sich fragen, was die Abkürzung MM bedeutet, dann warst du definitiv nicht dabei und könntest dir überlegen, beim 2. MM-Day im Juli dabei zu sein.


Folge 18: Mammutmarsch Nürnberg, 55km – lockerer Vorbereitungsmarsch oder eine weitere Grenzerfahrung?
Mai 2025

Die Antwort lautet: Weder noch. Aber alles von vorne:

Nach dem Wiedersehen mit meinen beiden Nürnberger-Wander-Buddies (siehe Blogbeitrag November) lerne ich zwei weitere Jungs aus ihrem Freundeskreis kennen und so starten wir frisch und motiviert in dieser Fünfergruppe den Mammutmarsch in Nürnberg. Nürnberg scheint eine animale Hochburg zu sein, denn auch dieses Mal besuchen uns Tiere auf der Route. Ich erfreue mich ob der Strecke entlang des Tiergartens und versuche, einige Tiere zu erspähen. Zeitgleich kämpfen meine männlichen Wegbegleiter mit einem äusserst unangenehmen tierischen Gegner, dem Isegrim. Während ihres unerschöpflichen Kampfes (indem ich sie nicht unterstützen kann – denn dagegen helfen auch die Schweizer Ovoschoggi-Täfeli nichts) nutze ich die Gelegenheit, mich literarisch weiterzubilden. «Ich geh’ mal den Wolf füttern» höre ich immer wieder. Die dabei angewandte Intonation lässt mich die Wichtigkeit ihres Handelns in dieser Angelegenheit erahnen. Ich mache mich also auf die Suche nach der Bedeutung dieses Satzes. KI meint dazu nur: Für diese Suchanfrage ist keine Übersicht mit KI verfügbar. Es muss sich also um eine äusserst mysteriöse und geheim gehaltene Mission handeln. So entscheide ich mich, meine Detektivarbeiten fortzusetzen – Zeit dafür habe ich auf dem Marsch genug und nach stundenlanger Recherche besitze ich folgende Indizien:


Opfer: ausschliesslich männlich
Täter: Canis lupus (umgangssprachlich auch «Wolf» genannt)
Widerstand mittels: Vaseline
Örtlichkeit des Gegenangriffs: hinter Bäumen oder sonstigem Sichtschutz


Und bevor sich die Frauen jetzt unnötige Geschichten zusammenreimen: Fragt einen Mann (am besten einer, der schon einen längeren Marsch hinter sich hat) nach des Rätsels Lösung.
Mein Wortschatz ist jedenfalls stolzer Besitzer eines neuen Sprichwortes. Und somit ist bewiesen, dass ein Marsch auch für die Bildung eines Menschen von grossem Nutzen sein kann.


So viel zur literarischen Bildungsphase dieses Marsches. Apropos Phasen: Jeder unserer Gruppe hat seine Hochs und Tiefs, die einen ausgeprägter als die anderen. Ich bin froh, dieses Mal nicht zu den Krassestleidenden zu gehören. Ich nutze die rund zwölf Stunden Marsch (neben meiner literarischen, isegrimmschen Recherche) auch dazu, aus sportpsychologischer Sicht die verschiedenen Phasen unserer Zustände zu analysieren. Eine nicht zu unterschätzende Arbeit, da ich nicht als Beobachterin, sondern als Teil der Mammutherde mittendrin bin. Erschwerend ist auch, dass wir fünf die Phasen unterschiedlich intensiv und lange erleben und auch nicht alle von uns zur selben Zeit in derselben Phase sind.
Ich versuche deshalb, die Analyse zu pauschalisieren und euch die verschiedenen Stadien mithilfe des Mammutmarsch-Bingos zu erklären (mit Klick aufs Bild vergrössert sich die Ansicht). Ein Dank geht an dieser Stelle nach Deutschland zu Steffen Bischoff (www.steffenbischoff.com), der mir freundlicherweise erlaubt hat, seinen Blogbeitrag über die Phasen eines Marathons als Basis für meine Analyse zu verwenden.
Wer nicht so viel Text mag, für den gibt es am Schluss dieses Beitrages eine Zusammenfassung.

Phase 0 – Der Start
Zu Beginn ist alles in Ordnung und die Stimmung riesig. Nach langer Vorbereitung stösst der Körper Adrenalin aus und es geht endlich mit einem dreifachen «Mammut-Marsch, Mammut-Marsch, Mammut-Marsch» los!


Phase 1 – unbesiegbar
Auf den ersten Kilometern ist die Stimmung gut, wir plaudern viel und planen den Zieleinmarsch mit möglichen Zeitangaben. Eine dazu nötige Durchschnittsgeschwindigkeit und die Dauer der Pausen werden definiert. Wir sind schmerzfrei und frohen Mutes.

Phase 2 – Verbundenheit
Wir geniessen, nicht allein zu laufen. Unsere Aufmerksamkeit ist gross, der Blick und das Interesse sind auf die ganze Herde gerichtet. Die Stimmung ist heiter.



Phase 3 – Mitleid und Verdrängung
Nach drei Stunden pausenlosem Marsch ist noch nicht einmal ein Drittel geschafft. Dieser Gedanke kommt in dieser Phase aber gar nicht auf. Wir verdrängen schlichtweg, dass es bis zum Ziel noch weit ist. Die Herausforderung würde sonst zu gross werden. Was wir jedoch registrieren, sind einzelne Herdenmitglieder, welche jetzt schon leiden. 

Da verteilt man gerne, was man in diesem Moment zur Verfügung hat: ein lieber Motivationsspruch, ein Schweizer Biberli oder ein Blasenpflaster.

Phase 4 – Panikanflug (kurz vor der Hälfte der Strecke)
Alles, was wir verdrängen, sucht sich irgendwann einen Weg. Wenn die Kräfte schon ein wenig sinken, fällt es dem Verdrängten noch leichter, sich seinen Weg zurück in die Gedanken zu bahnen. Ein leichter Anflug von Panik breitet sich aus, weil die noch zu bewältigende Herausforderung plötzlich beunruhigend wirkt. Zumal sich auch einzelne Muskelpartien langsam aber sicher bemerkbar machen und finden, dass sie genug von der Tschalperei haben.

Phase 5 – Ernüchterung und/oder geistige Entgleisung
Jetzt kommen die ersten Blasen und mit ihnen das Grübeln. War es wirklich eine gute Idee, bei diesem Marsch mitzumachen? Macht das überhaupt Sinn? Warum tue ich mir das an? In dieser Phase sind richtige Unterstützer Gold wert und die haben wir definitiv in unserer Gruppe. Da nicht jeder zur selben Zeit an diesem Punkt angelangt, können wir uns gegenseitig durch diese Phase pushen. 


Wichtiges Material in diesem Stadium: Blasenpflaster, Schere, Silikon-Zehen-Haube, Tape und Wundsalbe.
Einige lassen die Ernüchterungsphase kaum an sich heran oder versuchen, mit Albereien das Grübeln zu verdrängen. Das ist der Grund, warum in dieser (eigentlich kritischen Phase) viele Sprüche gerissen werden und jeder Spruch zu einem Gelächter führt. In der Schweiz betitelt man diesen Zustand als «überegheit». Das Berndeutsche Wörterbuch hat tatsächlich eine Hochdeutsche Übersetzung dazu bereit: Geistige Entgleisung.
Diese Phase verstehen wohl nur Beteiligte.

Phase 6 – längere Pause
Der motivationsgeladene Zeitplan (er stammt aus Phase 1) wird mit einer längeren Pause versaut. 






Wir haben sie aber nötig und so geniesst jeder, was ihm gerade guttut.

Und weiter geht’s, hoffentlich nur noch aufwärts… doch da kommt Phase 7:


Phase 7 – das grosse Tief
Was vorher kleine Zweifel oder größere Ernüchterung waren, fühlt sich jetzt an wie ein Loch. Der grosse Einbruch ist da. Jetzt heisst es: Aufgeben oder dranbleiben! Die Phase ist heftig, doch zum Glück dauert sie nicht allzu lange an und somit erweitert sich unser Bingo innert kürzester Zeit um zwei Kreuze.


Phase 8 – das Ziel vor Augen
Jetzt ist es nicht mehr weit. Der Körper hat kaum noch Reserven, aber das Ziel scheint erreichbar. Erschöpfung und Schmerzen sind überall spürbar, gleichzeitig aber auch die Vorfreude durch das Ziel zu marschieren. Dieses Bild lässt unsere Gedanken nicht mehr los und wird zu einem klaren Zielbild, welches weiter antreibt.

Phase 9 – Der Heldenmoment
Wir sehen das Ziel und die Schmerzen sind für einen Moment weg. Mit erhobenen Händen schreiten wir unter dem Zielbogen durch und erleben ein breites Spektrum an Emotionen, von purem Glück über Erleichterung bis hin zu Erschöpfung und Stolz. Wir haben unser Ziel erreicht. 




Keine fünf Minuten nach Zieleinmarsch sitzen wir mit unserem Finishergetränk im Zielbereich und googeln, wo der nächste Marsch stattfindet.

Die Schmerzen werden in den nächsten Tagen weniger, Stolz und Freude werden bleiben.




Für die Lesefaulen gibt es hier wie versprochen die Analyse in Kurzform:
1. Los geht’s!
2. Ich marschiere und geniesse!
3. Warum mache ich das?
4. Bin ich schon tot?
5. Ich wünschte, ich wäre tot!
6. Ich bin tot!
7. Ich möchte nochmal!

Mein Fazit zum Mammutmarsch Nürnberg: Coole Truppe, wunderschöne Strecke, top Wetter, akzeptable Zeit, scheiss Schuhe (mit solchen Blasen marschiere ich keine 10km weiter), gute Ausrüstung, optimiertes Rucksackgewicht und ein gewachsener Respekt vor der 100er-Strecke.


Folge 19: Mammutmarsch Mannheim, 60km – letzte offizielle Probe vor dem 100er
Juni 2025

Text folgt